Aus "angerichtet", Seite 128 - 130

 

Anmerkungen zum Textverständnis: Paul Lohmann, der Ich-Erzähler des Romans, hat das Handy seines fünfzehnjährigen Sohnes (Michel) an sich genommen. Auf der Mailbox erkennt er zwei Stimmen: die seiner Frau Claire und die von Michels gleichaltrigen Cousin Rick.

 

Michel spielte Fußball und Tennis, und vor einem halben Jahr war er einem Fitnessklub beigetreten. Er rauchte nicht, trank kaum mal Alkohol und hatte bereits mehrmals seine Abneigung gebenüber Drogen geäußert, sowohl Soft- als auch Harddrugs. "Dösköppe", so nannte er die Kiffer aus seiner Klasse, und wir, Clare und ich, waren wirklich froh. Froh über unseren Sohn ohne Verhaltensauffälligkeiten, der selten die Schule schwänzte und seine Hausaufgaben machte. Er war kein herausragender Schüler, er rackerte sich nie groß ab, eigentlich bemühte er sich nie mehr als dringend notwendig, aber andererseits gab es auch nie Klagen über ihn. Seine Noten und Zeugnisse waren meistens "passabel", nur in Sport bekam er immer eine Eins.

"Alte Nachricht", sprach die Mailboxansagerin.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich noch immer mit Michels Handy am Ohr auf der Brücke stand. Michel war schon in der Mitte der Brücke angekommen. Ich drehte mich um, damit ich mit dem Rücken zur Brücke stand, und ging schon mal zum Restaurant zurück; egal wie, ich musste jetzt schnell die Verbindung abbrechen und das Handy wieder in der Tasche verschwinden lassen.

 

"Heute Abend ist okay", erklang Ricks Stimme. "Wir machen das heute Abend. Ruf mich an. Ciao."

Danach kamm die Stimme der Mailboxansagerin, die Zeit und Datum der hinterlassenen Nachricht mitteilte. 

Hinter mir hörte ich Michel, die Reifen seines Rads knirschten auf dem Kiesweg.

"Alte Nachricht", sagte sie noch einmal.

Michel fuhr an mir vorbei. Was sah er? Einen Mann, der in aller Seelenruhe durch den Park schlenderte? Mit einem Handy am Ohr? Oder sah er seinen Vater? Mit oder ohne Handy?

"Hallo, mein Lieber", hörte ich jetzt Claires Stimme am Ohr, im selben Augenblick, als mein Sohn an mir vorbeifuhr. Er fuhr weiter bis zu dem beleuchteten Kiesweg und stieg dann vom Rad. Er schaute sich um und ging zum Fahrradständer, der links neben dem Eingang stand. "Ich bin in einer Stunde zu Hause. Papa und ich gehen um sieben Uhr zum Restaurant, ich sorge schon dafür, dass wir bis nach Mitternacht wegbleiben. Ihr müsst es also heute Abend tun. Papa hat keine Ahnung, und das soll auch so bleiben. Tschüs, mein Lieber, bis später, Kuss.".

Michel hatte sein Fahrrad abgeschlossen und ging zum Restauranteingang. Die Mailboxansagerin nannte das Datum (heute) und die Zeit (zwei Uhr mittags), zu der die letzte Nachricht auf die Box gesprochen worden war.

Papa hat keine Ahnung.

"Michel", rief ich. Schnell steckte ich das Handy in die Tasche. Er blieb stehen und hielt nach mir Ausschau. Ich winkte.

Und das soll auch so bleiben.

Mein Sohn kam über den Kiesweg angelaufen. Wir trafen uns an der Stelle, wo der Weg begann, sie war hell erleuchtet. Aber vielleicht würde ich so viel Licht auch brauchen, überlegte ich.

"Hallo", sagte er. Er trug die schwarze Nike-Mütze, um den Hals baumelte der Kopfhörer, das Kabel verschwand im Kragen seiner Jacke. Eine grüne, wattierte Jacke von Dolce & Gabbana, die er sich vor Kurzem selbst von seinem Kleidungsgeld gekauft hatte. Danach war kein Geld mehr für Socken und Unterhosen übrig gewesen.

"Tag, mein Junge" sagte ich. "Ich dachte, ich geh dir schon mal ein Stück entgegen."

Mein Sohn sah mich an. Seine ehrlichen Augen. Am ehesten könnte man seinen Blick als unbefangen beschreiben.

Papa hat keine Ahnung.

"Du hat gerade telefoniert", sagte er.

Ich sagte nichts.

"Mit wem denn?"

Er versuchte möglichst locker zu klingen, doch ich hörte den fordernden Unterton in seiner Stimme heraus. Ein Ton, den ich noch nie zuvor gehört hatte, und ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten.

"Ich wollte dich anrufen", sagte ich. "Hab mich gewundert, dass du so lange brauchst."